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Mit allen Sinnen
Der Nordosten Ungarns mit seinen barocken Städtchen und Dörfern, Thermalquellen und Burgen in einer weiten Hügellandschaft, die im Herbst aussieht wie ein glühendes Feenland, ist die perfekte Region, um sich eine Radikalkur in Sachen Durchatmen zu gönnen. Und dabei Land und Leute wirklich kennenzulernen – statt Sehenswürdigkeiten abzuhaken.

Önologe - Mad Winery
Der Mann ist ein Hüne, doch wenn Ferdinand Àkos Bihari durch die Weinberge über seinem Heimatdorf Mád streift, wirkt der Önologe der „Mad Winery“ wie ein kleiner Junge, der vor Begeisterung kaum an sich halten kann. Und das steckt an! Auf der holprigen Fahrt in seinem Geländewagen deutet er in alle Himmelsrichtungen und übersetzt dabei simultan die ewig langen ungarischen Namen. Zum Beispiel: „Land, in dem man gut Hasen jagen kann.“ Gerade kniet er an einer Rebzeile und zeigt den Hang hinab: Die Herbstsonne bringt die Erde zum Glimmen. „Obsidian“, erklärt Àkos Bihari, und bald klauben wir alle die schwarzen Handschmeichler aus dem roten Lehm.



Es ist einer der Momente auf dieser Reise, der sich nicht mit einem Instagram-Foto einfangen lässt – und der sich vielleicht gerade deshalb tief in die Erinnerung graben wird. Vor ein paar Tagen haben wir Budapest mit all den grandiosen Sehenswürdigkeiten einfach links liegen lassen, um stattdessen den ländlichen Nordosten Ungarns zu entdecken. Statt eine Bucket-List abzuarbeiten, wollen wir uns auf den Rhythmus dieser Region einlassen. Und den bestimmt hier die Natur.
„Geometrisch gesehen, sind wir hier genau im Zentrum Europas.“
Und tatsächlich, bereits auf der mäandernden Landstraße von der Burgstadt Eger durch die Buchenwälder der Bükk-Berge nach Tokaj haben Zeit und Raum ihre gewohnte Relation verloren. Und als ob er Gedanken lesen könnte, sagt Àkos Bihari: „Geometrisch gesehen, sind wir hier genau im Zentrum Europas.“ Dabei streicht er über die glasige Oberfläche eines besonders schönen Lavasteins.
Sie zeugen von Hunderten von Vulkanen, die an den Ausläufern der Karpaten einmal brodelten. Deswegen unterscheidet sich der Mineralgehalt im Boden von Weinberg zu Weinberg, ja manchmal sogar von einer Rebe zur nächsten. „Und das schmeckt man im Wein!“, sagt der Winzer.
Lange tranken nur Süßmäuler die Tokajer Weißweine, deren Hauptanbaugebiet rund um Mád liegt. Der berühmte honigfarbene Aszú wurde 1571 erstmals urkundlich erwähnt. Ludwig dem XIV. verdankt er die Bezeichnung „Wein der Könige – König der Weine“. Am hohen Zuckergehalt ist ein Schimmelpilz schuld, der im einzigartigen Mikroklima die Trauben befällt: Übrig bleibt in der Beere die süße Essenz.
„Selbst im Dessertwein ist die Süße nur eine Würzkomponente im Bouquet.“
Stolz ist man immer noch auf die jahrtausendealte Winzerkunst, die Tokajs Kulturlandschaft den Titel Weltkulturerbe eingetragen hat. Aber dem Winzer ist es wichtig zu betonen, dass ein Teil der Produktion längst „trocken“ gelegt wurde. „Und überhaupt“, sagt er: „Selbst im Dessertwein ist die Süße nur eine Würzkomponente im Bouquet.“
Schon aus der Ferne künden rote LED-Lettern „Mád“ an – und damit ein Dorf, das gerade mal 2000 Einwohner zählt, in dem die meisten Häuser aus Stein gebaut sind, der Tag bei Sonnenuntergang endet und die grasüberwucherten Giebel-Eingänge mitten im Dorf vermuten lassen, dass unter den Menschen ein Zwergenvolk haust. Tatsächlich handelt es sich um die jahrhundertealten Weinkeller der Winzerfamilien von Mád. Erst nach dem Zweiten Weltkrieg sind die in den Berg gegrabenen Tunnel verbunden worden und erstrecken sich nun als zwei Kilometer langes Labyrinth unter dem Dorf.
Knapp die Hälfte davon hat das Weingut Holdvölgy restauriert. Zur Verkostung drückt einem die junge Mitarbeiterin deshalb nicht nur ein Weinglas, sondern auch eine Karte in die Hand. Unter schummriger Grubenbeleuchtung sollen wir selbst zu den Koststationen finden. Die Schnitzeljagd durch das kühle Keller-labyrinth ist nicht nur spaßig, sondern verschafft den Geschmacksknospen die nötige Pause, um den stetig steigenden Zuckergehalt zu würdigen. Immerhin spannt sich das Spektrum von vier trockenen zu vier süßen Tokajern. Den letzten Schluck darf man gegen die modrige Wand feuern. Schimmelkultur gilt auch hier unten als gerngesehener Gast.
Apropos, in Sachen Gastlichkeit strotzt das kleine Dorf vor Überraschungen. Allmählich wird klar, was es mit den roten Lettern am Ortseingang auf sich hat. Wer würde sonst vermuten, dass sich hier ein Feinschmecker-Lokal versteckt? Im eleganten Speisesaal von Gusteau wird der Wein choreographiert wie ein Ballett. Jeder Gang dient als Kulisse, um die kontrastreichen Aromen der Tokajer in Szene zu setzen. So verliert der halbtrockene Hárslevelü mit jeder Gabel Gänseleberpastete an Lieblichkeit. Das Kotelett vom Mangalitze-Schwein hebt die mineralische Säure des Szent Tamás hervor, und die Aprikosennote der preisgekrönten Spätlese schmeckt noch nach, wenn die Quittenknödel längst verzehrt sind.
Doch nicht nur Weinliebhaber pilgern nach Mád. Mitten im Dorf steht, wundersam erhalten und restauriert: die älteste Synagoge Ungarns. Letztens habe sie hier eine riesige Bar-Mitzwa ausgerichtet, erzählt Mariann Frank unter dem barocken Deckengewölbe mit den türkisblauen und goldenen Bordüren. Immer öfter pilgerten nun chassidische Juden aus den Vereinigten Staaten oder aus Israel nach Tokaj. „Hier liegen Rabbis begraben, denen Wundertaten nachgesagt werden“, erklärt die Budapesterin. Sie trägt mit einem Forschungsprojekt Sorge, dass die Geschichte der Juden von Mád nicht vergessen wird.


Im denkmalgeschützten Herrenhaus von Tolcsva gibt man sich ungewohnt knausrig mit dem Tokajer. Allerdings weniger, weil in der Flasche vor uns die edle Essenz des Weins steckt. „Vier Tropfen“, mahnt Krisztina Somogyi und reicht die Pipette. Im Kräuterlabor von Helia-D wird der Aszú äußerlich angewandt. Als einer der natürlichen Wirkstoffe, die im Kosmetik-Workshop zur Wahl stehen, um die eigene Gesichtscreme herzustellen.
Schon vor der Wende haben die Cremes von Helia in jedem Badschränkchen gestanden. Allerdings noch ohne die erlesenen Zutaten. Die heutige Kosmetiklinie wurde mit der Privatisierung – wie so vieles im Land – neu erfunden.
Das liebevoll eingerichtete Haus dagegen atmet ungarische Geschichte. Somogyi schwirrt wie ein Kolibri durch die Etagen, rattert Genealogien herunter, zeigt hier einen Geheimgang, dort das barocke Plumpsklo im Erker, legt im Boudoir ungarischen Swing auf den Plattenteller und kennt im Kosmetikmuseum zu jedem Tiegelchen eine Anekdote.
Ach ja, die Creme. Plopp-plopp-plopp. Zum Tokajer gesellen sich Pflaumen-extrakt, Sonnenblumenessenz und Apfelzellen gegen die Falten. Für den Duft und die Stimmung noch etwas Salbeiöl. „Eine typische ungarische Mischung“, freut sich die Kräuter-Dozentin.
Je näher die slowakische Grenze rückt, desto mehr drängt sich die urtümliche Natur der Zemplén-Berge in den Blick. Lädt ein, Pfade zu erkunden, die noch lange nicht ausgetrampelt sind. Zum Beispiel zum Bergsee bei Sárospatak, der sich im verlassenen Steinbruch zwischen steilen Wänden wie eine verwunschene Oase versteckt.
Die mittelalterlichen Festen und Schlösser sitzen hingegen weit sichtbar auf ihren Felsenthronen. Die weiße Burg über Füzér wirkt, als ob man sie immer noch mit einem Heer einnehmen müsse. So detailgetreu wurde sie rekonstruiert. Um sich wie ein Burgherr zu fühlen, braucht man jedoch nur ein Paar Wanderschuhe.
Am Fuß der bemoosten Ruine Boldogkő stößt eine Reisegruppe mit Pálinka an. Und in alter Gewohnheit sehen wir schon auf Instagram die Herzen blitzen. Denn oben auf dem Felsengrat ragt der Ausguck wie eine Bowlingbahn in den Himmel. Doch als wir an der Brüstung stehen, ist das Smartphone vergessen. Die Nase im Wind schmecken wir dem Land noch mal nach. Mal heiter. Mal herb. Oder wie die Winzer zu einem ordentlichen Tokajer sagen – genug Säureanteil, um dem Zucker Paroli zu bieten.
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