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Achtsamkeit nach Eger Art
Der Nordosten Ungarns mit seinen barocken Städtchen und Dörfern, Thermalquellen und Burgen in einer weiten Hügellandschaft, die im Herbst aussieht wie ein glühendes Feenland, ist die perfekte Region, um sich eine Radikalkur in Sachen Durchatmen zu gönnen. Und dabei Land und Leute wirklich kennenzulernen – statt Sehenswürdigkeiten abzuhaken.



Mit Sticktulpen, Wollschweinen und einem dampfenden Salzberg.
Erzsébet zwickt ein streichholzlanges Stück von einer frischen Bandnudel, wickelt es um eine Art Stricknadel und rollt sie über ein geriffeltes Metallbrettchen. Dann stippt sie das fingernagelgroße Kunstwerk zu den anderen „Csigatészta“ auf der Tischplatte. Die „Schneckennudeln“ werden zum nächsten Festtag in der Suppe landen. Ein steht fest: Zeit wird hier nicht wie anderswo gemessen – und schon gar nicht in Sekunden.
Für uns ist es die perfekte Einstimmung auf eine Reise, bei der wir die Langsamkeit entdecken wollen, statt wie im Alltag To-do-Listen abzuarbeiten. Slow Travelling, das bedeutet Land und Leute bewusst kennenlernen, vielleicht etwas zurückzugeben und dabei die kleinen Momente zu genießen – ja, auch das Drehen von Nüdelchen.
Wir befinden uns im Dörfchen Tard, östlich der Stadt Eger, neben der Kirche in einem Holzhäuschen, das auf einen Obstgarten blickt. Erste Lektion: Das Smartphone bleibt in der Tasche. Unsere Finger brauchen wir jetzt.
Die 80-jährige Erzsébet trägt nicht ohne Grund ihre Festtracht: eine rote Haube mit lustigen Troddeln an der Seite, dazu ein prächtig besticktes Kleid. Die Bluse ist älter als sie selbst. „Matyo“ heißt die traditionelle Stickkunst. Und hier im Atelier von Matyodesign wirkt sie so lebendig wie Erzsébets herzliches Lachen. 75 Jahre ist es her, dass sie die ersten Blüten stickte, draußen auf der Weide beim Gänsehüten. Heute sitzt sie fast jeden Tag mit 27 anderen weißhaarigen Frauen aus dem Dorf über Stickrahmen und zaubert mit der Nadel Tulpen, Rosen und Nelken in den Stoff. Allerdings sind es keine Trachten, sondern lässige T-Shirts, Capes und Accessoires. Die meisten Frauen sind Witwen, bessern sich damit die magere Pension auf – und die Laune.
„Die Stickerei ist besser als jede Pille“,

Gründerin Matyodesign
„Die Stickerei ist besser als jede Pille“, erklärt Rozi Váczi. Die 39-jährige Gründerin der Kooperative ist in Tard aufgewachsen. Früher war Matyo für sie ein Relikt aus der Vergangenheit, doch nach Jahren im hektischen Budapest sah sie die Tradition plötzlich mit anderen Augen.
Die Frauen finden bei Matyodesign nicht nur eine Familie. Das Dorf haben die meisten ihr Leben lang kaum verlassen. Doch seitdem Reisende kommen, sich auf einer Tagestour zeigen lassen, wie man die Nadel führt, wie man einen Knoblauchzopf flicht oder Mohnsamen pult, ist das Atelier für sie auch ein Fenster in die Welt. „Und die Touristen wiederum entdecken hier die Langsamkeit, das ist wie Meditation“, sagt Váczi. Wie lang dauert es denn nun, so ein T-Shirt zu besticken? Zwei Tage bei weißem Stoff, bei schwarzem täten sich ihre Augen schwer, sagt eine der Frauen. „Sechs!“, toppt Erzsébet, und es klingt ziemlich stolz.

Eingelullt von Herzlichkeit und einem Gläschen Pálinka, geht es nach Eger. Von den Burgmauern, hinter denen sich vor gut 500 Jahren 2100 Ungarn gegen die Übermacht des türkischen Heers verteidigten, wirkt die Stadt mit ihren Zwillings-Kirchtürmen und der zweitgrößten Kathedrale des Landes wie eine barocke Puppenstube. An die Besatzung erinnert nur noch das nördlichste osmanische Bauwerk der Welt: ein stahlgraues Minarett. Daneben dreht sich ein Riesenrad. Gemächlich wie der Kürtős-Kuchen, den ein Händler am Spieß über dem Feuer vor dem Burgtor bräunt. Kein Wunder, dass unten in der Altstadt der erste „Slow Food“-Markt Ungarns etabliert wurde.
Einmal im Monat lädt das Weingut Gál Tibor nachhaltige Hersteller aus der Region in seine Kellerei. Mit der Lichtinstallation, die wie ein Saturnring unter dem Deckengewölbe des mittelalterlichen Pferdestalls schwebt, eine illustre Kulisse für wiederentdeckte Köstlichkeiten wie den butterzarten Speck des Mangalitzer Wollschweins, Salami des indigenen Graurinds, geräucherte Wachteleier in Pilzöl, Quittengelee oder jungen Schafskäse. Dazu Bio-Pflaumensaft oder natürlich ein Glas Wein. Zum berühmten roten Erlauer Stierblut hat sich längst ein weißer Gegenpart gesellt: Egri Csillag – der Stern von Eger.
„Hartriegel, Hagebutte, Aprikose, Schwarzdorn...“

Slow Food-Vorstand
Slow-Food-Vorstand Diana Szekeres nennt den Markt eine „Oase der Achtsamkeit“. Immer mehr Hersteller seien begierig zu zeigen, was die Region zu bieten und zu schmecken hat. Marmeladenköchin Elisabeth jedenfalls lässt nicht ab, bis die letzte Sorte gekostet wurde. „Hartriegel, Hagebutte, Aprikose, Schwarzdorn…“, zählt sie auf. Und als ob der Geschmack der vier bis zwölf Stunden eingekochten Gartenfrüchte noch nicht überzeugen würde: „Antioxidantien, Eisen…“ Die Armada an Einmachgläsern hat sie aus dem Dorf Noszvaj mitgebracht.
Wie in einem Märchenbuch nisten die Häuser mit ihren Schindeldächern in einem laubüberkronten Tal. Und dort am westlichen Dorfrand scheinen Elfen zu hausen: Fünf hohe Pfahlbauten mit Panoramafenstern und zwei Türme stehen zwischen den alten Eichen und Ahornbäumen am Hang, verbunden über Stege und Treppen. Tatsächlich handelt es sich um ein luxuriöses Hotel, sogar einen Whirlpool gibt es in jedem Baumhaus, von dem man den Blättern beim Rascheln zugucken kann. Natürlich könnte man auch wandern gehen oder sich die Höhlenhäuser ansehen, die arme Dörfler einst ins weiche Vulkangestein am anderen Ende von Noszvaj gruben und die gerade als Kulturzentrum herausgeputzt werden. Doch nach Wildschweinsuppe und Kartoffelspätzle, die im Restaurant Rosmarin großzügig als Vorspeisen deklariert werden, will man sich eigentlich nicht mehr viel bewegen.
Der rechte Moment, um sich einer weiteren landestypischen Disziplin zu widmen, die wie geschaffen ist für Slow Traveller wie uns: dem Salzberg von Egerszalók beim Wachsen zusehen! Das geht auch im Winter am besten in der Badehose. Denn das Wasser, das aus 410 Meter Tiefe unter dem Kiefernwäldchen entspringt, um über einen Hang ins Open-Air-Spa zu fließen, hat beinahe 70 Grad. Auf seinem Weg an der Oberfläche setzt sich das enthaltene Travertin ab und bildet als schimmerndes „Salz“ bizarr geformte Kaskaden. Andere Mineralien bleiben im heilsamen Wasser, wovon der schweflige Geruch zeugt. Dass auf dem weißen Kalk auch grüne Algen fleißig gedeihen, findet der Hügelpfleger gut, der in Gummistiefeln dafür sorgt, dass sich das Wasser schön verteilt. „So sieht er aus, wie Gott ihn schuf!“
„Ich gewöhne mein Herz an die Stille.“
Das wahre Farbenspektakel aber wartet auf der Fahrt gen Norden. Auf beiden Seiten glühen Laubwälder so üppig in allen Herbsttönen, dass man kaum auf die Straße achten möchte, die sich durch die Bükk-Berge schlängelt. Immer wieder verliert sich der Blick in den flirrenden Buchenblättern.
Im Talkessel über dem Kurort Lillafüred regnet es zwar, aber schlimm ist das nicht, schließlich ist hier alles aufs Verweilen ausgerichtet. Radelt man eben morgen mit dem Tandem um den Bergsee herum, lässt sich vom Schmalspurzug, mit dem einst das Holz aus dem Berg transportiert wurde, durch den Nationalpark zuckeln, schwebt im Sessellift über die Wipfel – oder wandelt durch die hängenden Gärten unter dem Palasthotel. Und lässt sich für den zweiten Teil der Reise von Nationaldichter József Attila inspirieren: „Hier sitz ich, an glitzernder Felsenwand“, dichtete er in seiner Ode: „Ich gewöhne mein Herz an die Stille.“
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