„Ich habe eine neue Sicht auf das Schreiben bekommen“
Die Interviews führte Christina Lynn Dier
Die Interviews führte Christina Lynn Dier
Von der wissenschaftlichen Arbeit zur literarischen Kreativität: Maddalena Fingerle ist wissenschaftliche Mitarbeiterin an der LMU München – und preisgekrönte Autorin. Im Interview spricht die gebürtige Boznerin über die Bedeutung der Belletristik in digitalen Zeiten und ihren zweiten Roman „Pudore“.
Das erste Mal, dass ich das Gefühl hatte, wirklich geschrieben zu haben – also eine Stimme getroffen zu haben –, war, als ich mit meiner Masterarbeit über die Übersetzung von Eigennamen und Sprachspielen fertig war. Als Übung habe ich versucht, einen Roman der österreichischen Schriftstellerin Teresa Präauer ins Italienische zu übersetzen. Da habe ich angefangen, etwas Neues für mich zu entdecken – und zwar dass die Arbeit an der Universität mir helfen kann, eine für mich neue Sicht auf das Schreiben zu bekommen. Genauso ist es mit Giovan Battista Marino gewesen, dem Barockautor, den ich in meiner Dissertation behandelt habe und der mich zutiefst geprägt hat. Die Forschung wird allerdings auch vom Schreiben geprägt, und ich hoffe, dass das lange so bleiben darf!
Digitale Medien funktionieren sicherlich anders als Romane, aber ich finde sie an sich gar nicht schlecht. Die Aufmerksamkeit meiner Generation wurde schon von der Generation davor als mangelhaft empfunden, und man kann wahrscheinlich noch weiter in die Vergangenheit zurückgehen. Einmal war ich in einem sechsstündigen Theaterstück und dachte, ich will weg. Heute ist es für einen jungen Menschen vielleicht – aber es muss auch nicht sein! – mit einem Roman ähnlich, aber ich würde das eher als Herausforderung sehen: Wir „Alten” müssen eine Art der Kommunikation finden, mit der wir Romane, aber auch Klassiker der Literatur, Musik und so weiter ansprechend vermitteln können. Und wenn es mit Tiktok ist, warum nicht?
Auf eine Verkleidung! Lesen ist eigentlich nichts anderes: Die Stimme der Figuren von Romanen verschmelzen mit unserer eigenen. Die Leserinnen und Leser dürfen in diesem Fall in die Rolle von Gaia schlüpfen, eine Frau, die verlassen wurde und die, um ihre große Liebe wieder zu empfinden, anfängt, sich wie ihre Ex-Freundin zu kleiden, zu schminken, zu reden. Indem sie sich weit von sich selbst entfernt, erfährt sie eigentlich, wer sie wirklich ist. Die deutschen Leserinnen und Leser werden in München sein, sie können die Stadt aus der Sicht einer Italienerin (neu)entdecken, und sie dürfen auch den italienischen Landstrich Salento kennenlernen – ich hoffe, sie werden Spaß haben!
Pierdomenico Baccalario ist in Italien ein Bestsellerautor, seine Kinder- und Jugendbücher wurden in über 25 Sprachen übersetzt. Besonders erfolgreich war seine „Ulysses Moore“-Reihe. Ein Gespräch über das Schreiben, die Bedeutung von Leserfeedback und die Zukunft der Erzählkunst in Videospielen.
Junge Leserinnen und Leser suchen keine Botschaften, sondern Emotionen. Das heißt nicht, dass es in meinen Erzählungen keine Botschaften gibt, aber sie sind nicht das Hauptziel meiner Arbeit. Ich warne die Leser nicht vor etwas, ich will sie nicht von etwas überzeugen. Ich bin kein Lehrer, kein Wissenschaftler, ich kann keine sozialen oder religiösen Ratschläge geben. Was ich weiß, ist, dass ich sie an einen anderen Ort mitnehmen kann.
Schreiben bedeutet für mich, dass ich hoffe, dass jemand diesen Weg mit mir gehen möchte. Und dass der Leser Dinge sieht, die ich nicht gesehen habe. Auf diese Weise möchte ich meinen Lesern die Möglichkeit geben, ihren eigenen Weg zu gehen.
Das Feedback meiner Leser ist sehr wichtig für mich. Sie lieben meine Arbeit oder hassen sie – und in beiden Fällen sagen sie mir gern, warum. Wir diskutieren Entscheidungen, und manchmal verstehen sie, warum ich bestimmte Entscheidungen getroffen und andere vermieden habe. Die Leser entdecken, dass der wichtigste Teil einer guten fiktionalen Geschichte die „Wahrheit“ ist, also etwas Reales, das der Autor über sich selbst preisgibt. Man kann keine Geschichte schreiben, wenn man nichts zu sagen hat.
Für mich geht es beim Schreiben nicht darum, bestimmte Erzählmuster, Heldenreisen, redaktionelle Formate oder große Worte zu verwenden – auch wenn all diese Techniken grundlegend sind. Es geht darum, nach einer neuen Geschichte zu suchen, einen neuen Schauplatz zu finden, eine neue Figur zu treffen und die Dringlichkeit zu spüren, darüber zu schreiben. Wenn ich also meinen Lesern begegne, taucht irgendwann, versteckt in den immer gleichen Fragen (und das ist beruhigend), ein neuer Schauplatz, eine neue Handlung oder eine neue Figur auf. Und ich habe wieder etwas Neues zu schreiben.
Ich glaube, dass die stärksten Geschichten von heute die sind, die in Videospielen erzählt werden, und dass einige der Narrative Designer die einflussreichsten Autoren dieser Zeit sind. Einerseits hoffe ich, dass viele gute Erzähler verstehen, wie man mit Joypads gute Literatur macht, anstatt „nur“ mit Worten. Und andererseits hoffe ich, dass die Videospielindustrie gerade auf Kinderbuchautoren für die Umsetzung zugehen wird, weil wir die natürliche Gabe besitzen, jede Geschichte für alle unterhaltsam aufzubereiten.
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