Legacy-Systeme – Nur was für Mutige?
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Die Digitalisierung ist in vollem Gange. Auch Versicherer investieren in moderne Vertriebsportale, sie automatisieren ihre Prozesse und prüfen den Einsatz künstlicher Intelligenz. Damit eifern sie ihren Weggefährten nach – den digital fortgeschritteneren Banken. Unterstützt durch immer wagemutigere InsurTechs oder Cloud-Anbieter, gewinnt der Prozess bei Versicherern an Fahrt.
In jedem Unternehmen erreicht die Digitalisierung jedoch irgendwann einen Punkt, an dem ein Schritt zurück erforderlich ist, damit es weiter vorangehen kann. Dies ist der Punkt, an dem sich ein Unternehmen bzw. Versicherer mit seinen Altsystemen und -anwendungen auseinandersetzen muss.
Gartner zufolge ist ein Alt- oder Legacy-System "ein System, das auf veralteter Technologie basiert, für den täglichen Betrieb aber unverzichtbar ist". Nur die wirklich Mutigen wagen sich an diesen Altbestand. Nicht selten passiert es, dass ein Versicherer, der sich bereits auf eine Veränderung eingestellt hat und die notwendige Bereitschaft aufbringt, angesichts eines Altsystems sowohl die Energie als auch die Nerven verliert. Doch wie den meisten bekannt sein dürfte, stoßen Kernsysteme, selbst wenn sie vor wenigen Jahren aufgebaut wurden, schnell an ihre Grenzen. So können sie bspw. nicht mit den Änderungen im Front-Office mithalten und bei der Ausführung von Vorgängen greifen sie auf überholte Technologien zurück. Sie sind monolithisch aufgebaut und oftmals notdürftig "geflickt", da die personellen und finanziellen Ressourcen fehlten, um erforderliche Upgrades vorzunehmen. Sie haben keine cloud-native Architektur, sind weder für neue Tools wie Testautomatisierung und Robotik noch für die nahtlose Anbindung an externe Datenquellen offen. Als besonders ungeeignet erweisen sie sich, wenn es eine große Anzahl solcher Quellen gibt oder das Versicherungsunternehmen neue digitale Ökosysteme erschließen möchte.
Die Auseinandersetzung mit einem Altsystem ist eine echte Herausforderung für jeden Versicherer. Letztendlich läuft es bei der Aufrüstung eines Altsystems auf die Entscheidung zwischen Neuaufbau (falls überhaupt möglich), Umstrukturierung und Austausch des Systems hinaus. Eine Umstrukturierung oder Aktualisierung geht mit mittleren Kosten und Risiken einher; ein Austausch liefert die besten Ergebnisse, bedeutet aber höhere Kosten und Risiken. Was der Versicherer also braucht, ist Mut, Mut und noch mehr Mut. Ob die Entscheidung für den kompletten Austausch des Systems oder den schrittweisen Neuaufbau samt Umstellung auf Modularität oder Mikroservices fällt, hängt vom Geschäftsumfang und der Effizienz des IT-Teams beim Versicherer ab.
Generell ist eine Tendenz der Versicherer zu modularen Systemen feststellbar. Diese ersetzen die veralteten, monolithischen Riesensysteme – Schritt für Schritt bzw. Stück für Stück, wodurch die Kontinuität geschäftskritischer Systeme gewahrt werden kann. Eine bestehende Systemlandschaft komplett abzureißen und neu aufzubauen, kann hingegen sehr riskant sein; daher sind Vorbehalte gegenüber einer solchen Änderung nachvollziehbar. Ein organischer Ansatz, der diese Bedenken berücksichtigt, bietet einen Ausweg aus dieser Zwickmühle. Ein System mit offenen Anwendungsschnittstellen, größerer Flexibilität durch Modularität, einem eingebauten Produktdesigner und einer Administrationsanwendung erhöht die Geschwindigkeit aller Vorgänge und Transaktionen. Stehen parallel dazu Diagnosefunktionen bereit, verfügt der Versicherer über eine sichere Umgebung und kann während der schrittweisen Ablösung seines Legacy-Systems stetig beurteilen und entscheiden, welche alten Bestandteile noch verwendet werden können und welche ausgedient haben.
Altsysteme lassen sich also nach und nach außer Betrieb nehmen. Modulweise werden Abrechnung, Schadensmeldung, Berichterstellung, Underwriting, Rückversicherung und Policenverwaltung aus der veralteten Umgebung herausgetrennt. Anschließend beginnt der Vertrieb neuer Produkte über die neue Anwendung. Während der immer kleiner werdende Monolith zum Aufbewahrungsort archivierter Daten wird, die immer seltener benötigt werden, erfolgt die Übermittlung der neuen Daten an das Middle-Office.
Herzstück der Kernsysteme ist die Policenverwaltung; die Versicherungspolice ihr Dreh- und Angelpunkt. Durch die heute vorherrschende Kundenorientierung ist allerdings der Kunde sowie die effiziente Verwaltung seiner Daten ins Zentrum der Systeme gerückt. Folglich haben CRM-Systeme (Customer Relationship Management) an Bedeutung gewonnen und der Fokus der Versicherer hat sich von Front- und Back-Office auf das Middle-Office verlagert. Ein modernes Versicherungsunternehmen zeichnet sich durch Offenheit gegenüber seinen Kunden und sich verändernden Rahmenbedingungen aus.
Steht eine Modernisierung von Alt- und Kernsystemen an, lohnt es sich entsprechend, die Organisation des Back-Office zu überdenken und einen genaueren Blick auf das Konzept des Middle-Office zu werfen. Dies gilt umso mehr, da Altsysteme für wesentlich seltenere Änderungen an Produkten, Prozessen oder Geschäftsmodellen ausgelegt sind. Der Übergang von der alten zur neuen Systemlandschaft lässt sich so auch viel einfacher planen.
Bisher folgten die Systeme der Versicherer meist der Unterteilung in Front-Office und Back-Office. Während das Front-Office kundenbezogene Funktionen übernahm, lieferte das Back-Office hierfür Support und führte Funktionen hauptsächlich in den Bereichen Finanzen, Abrechnung und Rückversicherung aus. Mit zunehmender Digitalisierung verliert diese strikte Trennung von Front-Office und Back-Office jedoch an Bedeutung.
So mancher Versicherer hat bereits sein Front-Office durch digitale Kanäle ersetzt; viele nutzen sogar Portaldienste, also Plattformen von Drittanbietern. Diese Plattformen müssen einfach zu integrieren sein und eine zunehmende Anzahl an Funktionen unterstützen, die bisher dem Back-Office vorbehalten waren. Hier kommt das Middle-Office ins Spiel. Anstatt eine Komplettumstellung aller Geschäftsfunktionen und Unternehmenssysteme vorzunehmen, kann sich ein Versicherer dieser Herausforderung schrittweise stellen – indem er sich für eine pragmatischere Modernisierungsstrategie entscheidet, die mit der Identifizierung der "mittleren" Geschäftsfunktionen beginnt, welche sich am stärksten auf die Vorgänge in Front- und Back-Office auswirken.
Die im Middle-Office identifizierten Prozesse sind Kern der Arbeit des Back-Office. Tatsächlich sind sie nicht sehr klar umrissen und daher schwer zu präzisieren, aber sie spielen eine wichtige Rolle, denn die im Back-Office getroffenen Entscheidungen geben die Richtung für den Versicherer im Front-Office vor und beeinflussen zugleich die Kostenstruktur des Unternehmens. Auch hier geht es also um die Modernisierung des Altbestands. Und ein optimiertes Middle-Office bietet in jedem Fall eine schnellere Verbindung zu externen Umgebungen sowie eine flexiblere Produkterstellung.
Die Digitalisierung ist eine spannende Reise voller – oft anspruchsvoller – Herausforderungen. Von Versicherungsunternehmen werden entsprechende Initiativen umgesetzt und innovative Produkte wie Mikroversicherungen eingeführt; sie wagen sich in neue Risikobereiche vor und modernisieren ihre Geschäftsmodelle. Zudem bauen sie ihre Vertriebskanäle aus und brechen bestehende Silos auf.
Prognosen von Gartner zufolge werden Versicherer für die Aufrüstung ihrer bestehenden Systeme mehr als das Dreifache der bis 2020 geplanten Investitionen ausgeben müssen. Gartner gibt weiter an, dass zahlreiche Unternehmen Legacy-Systeme als Bremse für neue Geschäftsvorhaben erachten. Erreicht ein Unternehmen hier seinen kritischen Punkt, müssen die Anwendungsverantwortlichen den Mut aufbringen und geeignete Maßnahmen treffen, um solche Hindernisse zu beseitigen und den Modernisierungsprozess der Systemlandschaft anzustoßen. Da wir einen steten Wandel erleben, wird es immer wieder zu Änderungen und erforderlichen Anpassungen kommen.
Selbst wenn also Hindernisse überwunden sind, bleibt die Gefahr. Denn die gerade implementierten Systeme können sich als neues Problem erweisen. Über die Zeit werden die Herausforderungen mit Sicherheit zunehmen. Der Ausbau der Software hin zu cloud-nativen Architekturen sowie die Entwicklung von Anwendungen unter Einsatz des Internets der Dinge oder von künstlicher Intelligenz und Automatisierung führen dazu, dass Altsysteme ausgetauscht werden müssen. Aufrüstung allein wird nicht mehr genug sein, um Innovationen umsetzen zu können.
Ja, Legacy-Systeme erfordern Mut. Doch warten Sie nicht zu lange mit Ihrer Entscheidung – selbst wenn Sie einen Schritt zurück machen und Ihren Altbestand einsetzen müssen, um weiter voranzukommen und um Ihre Ziele zu erreichen.
Aleksandra Romot, Senior Business Consultant, Comarch
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