Wenn der Winter in Europa und Teilen des Nahen Ostens die Temperaturen unter den Gefrierpunkt fallen lässt, beginnt für viele Menschen auf der Flucht der Kampf ums Überleben. Mit dem Krieg in der Ukraine, der überall auf der Welt für steigende Kosten und unterbrochene Versorgungsketten sorgt, droht sich die prekäre Lage in den nächsten Monaten noch einmal zuzuspitzen. Hilfe zur Selbsthilfe ist in diesen Zeiten wichtiger denn je.
Gemeinsam der Kälte trotzen

Eine Außenwand ist komplett eingestürzt, das Dach halb weggerissen, überall liegen Trümmer: Die 65-jährige Liudmyla steht vor den Ruinen ihres Hauses im ukrainischen Makariv, in dem sie mit ihrer 85 Jahre alten Mutter Vira lebt. Wehmütig blickt sie auf die gerahmten Familienfotos, die den russischen Bombenangriff im Frühjahr unbeschadet überstanden haben. Sie wirken wie Symbole für ihre eigene Kraft, durchzuhalten. Doch wer weiß, wie lange sie und ihre Mutter dieses Leben in ihrem zugigen, provisorisch geflickten Zuhause noch schaffen werden? Was tun, wenn die Kälte des Winters mit Temperaturen von bis zu minus 20 Grad Celsius kommt und kein Strom, kein Wasser und kein Gas zum Heizen mehr da sind?
Vielen Ukrainer*innen geht es ähnlich wie Liudmyla und Vira. Sie leben in behelfsmäßigen Unterkünften oder sehen sich durch den Krieg zur Flucht aus ihren Häusern gezwungen. Es handelt sich um die größte Fluchtbewegung in Europa seit Ende des 2.Weltkrieges: Seit Beginn der russischen Invasion im Februar 2022 floh rund ein Drittel der ukrainischen Bevölkerung in sichere Regionen – innerhalb der Ukraine oder ins benachbarte Ausland. Mehr als 14 Millionen Grenzüberquerungen aus der Ukraine wurden registriert. Weit über 7,7 Millionen Ukrainer*innen leben inzwischen als Flüchtlinge in europäischen Staaten. Der Winter könnte nun noch weitere Ukrainer*innen zur Flucht in andere Länder drängen, insbesondere vor dem Hintergrund der massiven russischen Angriffe auf die Energieinfrastruktur der Ukraine.
Dennoch: Wo andere verzweifeln würden, packen viele Ukrainer*innen mit an. Sie überwinden tagtäglich ihre Erschöpfung, beweisen Mut, um zu überleben – teilweise unter Lebensgefahr. Immer wieder kehren Geflüchtete zurück in die Heimat, wenn diese als sicher gilt. Doch die Kriegsverwüstungen und erneut aufflammende Kriegsschauplätze erschweren die Versorgung mit Lebensmitteln, Wasser und Medikamenten. „In den letzten Wochen habe ich die Menschen in den stark betroffenen Gebieten von Charkiw, Saporischschja und der Region Kiew besucht und aus erster Hand gesehen, welches Ausmaß die Zerstörung, auch einzelner Häuser, hat und wie die Menschen darum kämpfen, ihre Grundbedürfnisse zu befriedigen und ihre Häuser vor dem Winter abzudichten und zu isolieren. Wie in anderen Krisen zahlen die Schwächsten den höchsten Preis, insbesondere ältere Menschen, Kinder und Menschen mit Behinderungen“, beschreibt die Repräsentantin des UN-Flüchtlingshilfswerks (UNHCR) in Kiew, Karolina Billing, die Situation.

Damit die Menschen überhaupt in ihre Häuser zurückkehren können, hilft der UNHCR mithilfe der Behörden vor Ort, die beschädigten Häuser zu reparieren und wieder aufzubauen. Außerdem werden Binnenvertriebenen Refugee Housing Units zur Verfügung gestellt. Das sind mobile Flüchtlingsunterkünfte, die innerhalb weniger Stunden aufgebaut sind. „Der Schwerpunkt unserer Hilfe liegt auf der Bereitstellung wichtiger Schutzmaßnahmen, der Bereitstellung von Unterkünften und Wohnungen sowie der Bereitstellung von Bargeld und Sachspenden. Wenn wir von Schutz sprechen, meinen wir Leistungen wie Rechtshilfe, etwa die Wiederbeschaffung verlorener Dokumente, damit die Menschen Zugang zu ihren Rechten und nationalen Diensten erhalten, die Bereitstellung psychosozialer Unterstützung und sozialer Begleitung sowie die Überwachung zur Ermittlung des Bedarfs, um die Prioritäten unserer Programme festzulegen“, berichtet Karolina Billing. „Wir haben bisher mehr als 2,7 Millionen Menschen durch diese Schutz-, Unterkunfts- oder Wohnungs- und Hilfsprogramme unterstützt.“
Besonders beeindruckend bei all der Zerstörung findet die UNHCR-Repräsentantin, mit welcher „Widerstandskraft und Entschlossenheit, sich zu erholen und wieder aufzubauen“, die Geflüchteten ihren Alltag meistern.
„Besonders bewegt und inspiriert bin ich von den älteren Menschen, die ich in den letzten acht Monaten getroffen habe. Viele von ihnen waren in ihren Häusern, als diese von Raketen getroffen wurden, und beschreiben, wie sie erschüttert aufstanden und begannen, die Trümmer von den Böden zu räumen und nach ihren Nachbarn zu sehen, um sich zu vergewissern, dass diese in Sicherheit waren.“
– Karolina Billing, Repräsentantin des UNHCR in Kiew

Auch Peter Ruhenstroth-Bauer, Nationaler Direktor der UNO-Flüchtlingshilfe in Bonn, betont: „Die Stärke der Flüchtlinge ist bewundernswert. Viele beweisen tagtäglich, dass sie sich und ihre Familien auch durch schwierigste Lebenssituationen manövrieren können – nicht nur in der Ukraine, sondern auch in Ländern wie Afghanistan, Syrien oder Irak.“ Der Hilfsbedarf ist nicht nur in der Ukraine und ihren Nachbarländern groß. Auch in anderen Ländern der Erde wird der kommende Winter vermutlich zur echten Belastungsprobe. Menschen auf der Flucht und Geflüchtete wird die kalte Jahreszeit vor noch mehr Herausforderungen stellen, als sie es ohnehin schon in ihrer Situation tun würde. Nicht zuletzt auch, weil der Krieg in der Ukraine weltweit verheerende Auswirkungen hat: Preise für Lebensmittel und Energie sind überall sprunghaft gestiegen, Liefer- und Versorgungsketten sind unterbrochen.
Hinzu kommen Covid-19-Pandemie und Klimakrise. Auch von deren Auswirkungen sind Flüchtlinge überdurchschnittlich oft betroffen. So befinden sie sich häufig an überfüllten Orten, an denen sauberes Wasser und geeignete Sanitäranlagen fehlen, um sich vor Krankheitserregern ausreichend schützen zu können. Außerdem leben viele Flüchtlinge in klimatisch gefährdeten Regionen, in denen sich Wetterkatastrophen wie Überschwemmungen oder extreme Temperaturen häufen. „Um sich für die Wintermonate wappnen zu können, brauchen diese Menschen unsere Unterstützung“, sagt Peter Ruhenstroth-Bauer.
So wie Gul Khan (Name geändert) und seine Familie in Afghanistan. Vor vier Jahren floh die heute 14-köpfige Großfamilie aus ihrer Heimat in der Provinz Nangarhar nach Kabul. Hier gehen nun alle Kinder, auch die Mädchen, zur Schule. Gul Khan selbst und sein erwachsener Sohn arbeiten als Tagelöhner. Mit dem wenigen Geld, das sie verdienen, können sie den Lebensunterhalt für die Familie gerade so stemmen. Der Winter jedoch ist die schlimmste Zeit. Weil sie sich kein Brennholz leisten können, verfeuern sie geschreddertes Plastik in ihrem Ofen, um wenigstens etwas Wärme in ihr Zuhause zu holen.
Die Armut in Afghanistan nimmt stetig zu. Über die Hälfte der Bevölkerung – 24,4 Millionen Menschen – ist insbesondere im Winter auf humanitäre Hilfe angewiesen.
„Im Sommer müssen wir uns nur um das Essen kümmern. Aber im Winter müssen wir uns darum kümmern, Brennstoff zum Verbrennen zu finden, die Heizung zu reparieren und beim Wasserholen nicht auf das Eis zu fallen.“
– Gul Khan