Future Health
Die Medizin der Zukunft
„Vorbeugen ist immer besser als heilen“
Ist es eine gute Idee, Menschen mehr Eigenverantwortung für ihre Gesundheit zu übertragen? Zwei Arzneimittel-Expertinnen von Sanofi beantworten skeptische Fragen zu Impfungen und Selbstmedikation
Frau von Fugler, Frau Irschik-Hadjieff, Sie beide haben verantwortliche Positionen beim Arzneimittelhersteller Sanofi und setzten sich dafür ein, dass Menschen in die Lage versetzt werden, sich mehr um ihre Gesundheit zu kümmern – das Stichwort hierfür lautet Selfcare. Aus der Position eines fiktiven und skeptischen Krankenversicherten heraus gefragt, der diese Idee ein wenig gegen den Strich bürstet und zweifelt, ob Selfcare eine rundum gute Idee ist: Was bringt denn Selfcare Ihrer Meinung nach an Vorteilen mit sich, wo sehen Sie die besten Anwendungsmöglichkeiten?
Theresa von Fugler: Wenn wir über Selfcare sprechen, gibt es im Prinzip drei große Bereiche. Der erste bezieht sich darauf, wie ich auf mich selbst achte – schlafe ich genug, ernähre ich mich gesund, treibe ich Sport, wie halte ich es mit der Hygiene, etwa mit dem Händewaschen? Der zweite Bereich betrifft die Vorbeugung. Eines der prominentesten Beispiele hierfür ist das Impfen, das können aber beispielsweise auch Nahrungsergänzungsmittel sein, um bei Bedarf Mangelerscheinungen zu vermeiden. Der dritte Bereich, der in meinem Fachgebiet Consumer Healthcare eine große Rolle spielt, betrifft die Frage: Wie reagiere ich, wenn ich bei aller Vorbeugung dann doch Symptome habe, also etwa bei einer Verstopfung oder bei Kopfschmerzen? Habe ich dann niedrigschwellige Möglichkeiten, Abhilfe zu schaffen, indem ich mich in meiner Vor-Ort-Apotheke beraten lasse? Ich halte es für ein großes Plus unseres Gesundheitssystems, dass nicht verschreibungspflichtige Medikamente über Vor-Ort-Apotheken unkompliziert zugänglich sind, ebenso wie über Ärztinnen und Ärzte, die diese Mittel mit dem sogenannten grünen Rezept ebenfalls empfehlen können.
Selfcare heißt also Vorbeugen ebenso wie Heilen. Christoph Wilhelm Hufeland hat schon vor mehr als 175 Jahren gesagt: „Vorbeugen ist besser als heilen.“ Ist dem so?
Heidrun Irschik-Hadjieff: Wenn Sie krank sind und eine Therapie brauchen, stellt sich ja die Frage, ob es überhaupt eine gibt, und wenn ja, spricht sie bei Ihnen an, hat sie Nebenwirkungen? Insofern ist die klare Antwort: Vorbeugen ist immer besser als heilen.
Gibt es denn ein Beispiel, das besonders deutlich zeigt, dass Vorbeugung sehr effizient ist und nachher das Heilen schwierig?
Irschik-Hadjieff: Das gilt für viele Infektionskrankheiten. Ein besonderes Beispiel ist die IME, die invasive Meningokokken-Erkrankung. Bei der IME kann sich der Zustand innerhalb von 24 Stunden dramatisch verschlechtern, soddass sie in 20 bis 30 Prozent zu Spätfolgen und in 10 Prozent der Fälle gar zum Tod führen kann. Es gibt in Deutschland nur rund 250 Meningitisfälle pro Jahr (vor der Pandemie), aber im Schnitt 25 Menschen sterben daran, und jeder einzelne ist einer zu viel. Impfungen können vor IME schützen.
Aber nehmen wir beispielsweise Kopfschmerzen – kann da nicht die Gefahr bestehen, dass ich mit Selbstmedikation etwas „zukleistere“ und dadurch eine schlimme Ursache verdecke?
Von Fugler: Genau deshalb leisten wir als Arzneimittelhersteller Aufklärungsarbeit: Eine akute Behandlung schenkt Betroffenen unkompliziert Lebensqualität. Besteht das Problem länger, ist ein Arztbesuch unbedingt notwendig. Dazu stehen wir sogar in der Pflicht. Wir sorgen dafür, dass Ärzte und Apotheker optimal über unsere Produkte informiert sind. Zudem wäre es auch wünschenswert, dass Beipackzettel verständlicher werden. Aber das können wir nicht allein beeinflussen. Hier sind wir an strenge formale und rechtliche Vorgaben gebunden. Es bleibt aber ein sicherlich erstrebenswertes Zukunftsprojekt, das wir angehen.
Irschik-Hadjieff: Das sehe ich auch so. Hier gibt es einen enormen Optimierungsbedarf, aber auch schon Fortschritte: zum Beispiel die App namens GI 4.0, die durchsuchbare Informationen zu Beipackzetteln bietet. Für manchen sicher eine Alternative zu einem langen Papierzettel, auf dem man schon mal den Wald vor lauter Bäumen nicht sieht.
Von Fugler: Der Beipackzettel ist eben auch kein Marketingmittel, er dient der Information auch für Fachpersonal. Auf europäischer Ebene wird derzeit intensiv der elektronische Beipackzettel diskutiert – da bieten sich Chancen, Informationen zu ergänzen.
Menschen sind ja völlig unterschiedlich informiert und auch ganz unterschiedlich kompetent. Überfordern Sie nicht auch viele Krankenversicherte mit diesem Selfcare-Gedanken?
Irschik-Hadjieff: Ich würde es eher so formulieren: Wir haben es uns auf die Fahne geschrieben, zu Aufklärung und damit zu mehr Kompetenz beizutragen. Die Idealvorstellung wäre, dass Patienten eine Informationsbasis haben, die weit über Dr. Google & Co. hinausgeht, und gut vorbereitet in die Praxis kommen, wo sie mit dem Arzt gemeinsam eine Entscheidung treffen können. Ich war unlängst mit dem Auto beim TÜV und in der Waschanlage. Dabei kam mir die Frage in den Sinn: Warum übernehmen wir für die eigene Gesundheit nicht ebenso Verantwortung und lassen dem eigenen Körper gegenüber die gleiche Achtsamkeit walten wie bei unserem Auto?
Von Fugler: Was die Kompetenz angeht, stehen wir ja nicht so schlecht da! Viele Menschen hierzulande nehmen die eigene Gesundheit in die eigene Hand. Der kürzlich erschienene Self Care Readiness Index Report 2022 hat Deutschland zusammen mit Singapur und Australien als Spitzenreiter bewertet – ein Kriterium dabei war die Einstellung und Informiertheit der Bevölkerung in Gesundheitsfragen. Natürlich gibt es auch Menschen, die überfordert sind, aber die sind ja nicht alleingelassen – sie können und sollten umso frühzeitiger ärztlichen Rat suchen oder sich an eine Apotheke wenden.
Wie könnte das Gesundheitssystem mehr persönliche Initiative unterstützen?
Irschik-Hadjieff: Für Kinder und Jugendliche bis zum 16. Lebensjahr gibt es bekanntlich ärztliche Pflichtuntersuchungen und vorgeschriebene Impfungen. Hier könnte man ansetzen und auf freiwilliger Basis die Menschen über alle Altersstufen begleiten – mit Empfehlungen zu Ernährung, Bewegung, Schlaf und medizinischen Hilfs- und Arzneimitteln.
Wir haben bislang über die einzelnen Patienten gesprochen. Wo sehen Sie die Effekte von mehr Selfcare auf das Gesundheitswesen insgesamt?
Von Fugler: Ich habe mir kürzlich die Geburtenraten angesehen – Im Jahr 1964 lagen wir in Deutschland bei 1,36 Millionen Neugeborenen und 2011 nur noch bei 663.000 , also weniger als der Hälfte. Das zeigt, wieso unser Gesundheitssystem unter Druck gerät – die Menschen werden älter und damit krankheitsanfälliger, und es fehlt an nachrückendem Personal. Dieses Gesundheitssystem können selbständigere Patientinnen und Patienten entlasten, wenn sie bei kleineren Beschwerden den Weg in die Apotheke suchen und sich zum Beispiel zur Therapie ihres Erkältungshustens vor Ort beraten lassen. Nach einer vom Bundesverband der Arzneimittel-Hersteller (BAH) vorgelegten Studie entlastet der Selfcare-Bereich unser Gesundheitssystem schon heute um 21 Milliarden Euro jährlich. Noch mal sechs Milliarden Euro Ersparnis für die Wirtschaft kommen hinzu, da weniger Menschen erkranken – denn Kranke können keine wirtschaftliche Leistung erbringen. Jeder einzelne Euro, den ich im Selfcare-Bereich investiere, entlastet das Gesundheitssystem um 17 Euro und die Wirtschaft um weitere 4 Euro.
Irschik-Hadjieff: Ähnlich ist es bei der Grippe: Die Weltgesundheitsorganisation WHO empfiehlt, dass 75 Prozent aller über 60-Jährigen gegen Grippe geimpft sein sollten. In Deutschland ist es aber nur jeder zweite. Da braucht es Aufklärung. Denn im Alter hat man ja nicht nur ein erhöhtes Risiko, an Influenza zu sterben, sondern auch das zehnfache Risiko, dadurch einen Herzinfarkt zu erleiden, ein achtfaches, einen Schlaganfall zu bekommen. Die Risikogruppen haben sowohl ein höheres Risiko für eine Grippeinfektion als auch für eine Coronainfektion. Diese Faktoren sind oft nicht bekannt.
Welche Rolle spielt die Digitalisierung für Selfcare, also Apps zum Beispiel?
Irschik-Hadjieff: Die Digitalisierung öffnet ganz neue Türen. Vor zwei Jahren sind die DiGAs vorgestellt worden, das steht für Digitale Gesundheitsanwendungen. Ich kann heute mit solchen Apps eine Therapie begleiten, Ergebnisse kontrollieren und damit den Nachweis erbringen, dass sie die Gesundheit fördern und Kosten sparen. Hat sie diesen Nachweis erbracht und ist sie deshalb als erstattungsfähig eingestuft worden, kann eine DiGA vom Arzt als Kassenleistung verordnet werden, auch, und da schließt sich der Kreis zu Selfcare, auf Initiative des Patienten.
Mal ein Gedankenspiel: Wie würde sich die nächste Grippewelle in Deutschland entwickeln, wenn der Selfcare-Gedanke optimal umgesetzt wäre?
Irschik-Hadjieff: Ich glaube, wir sind auf dem richtigen Weg, haben das Ziel aber noch lange nicht erreicht. Viele haben während Corona schon die Möglichkeit genutzt, über Plattformen einen Termin zu vereinbaren und einen Impfstoff auszuwählen. Ähnlich könnte es in diesem Grippe-Szenario laufen: Patienten haben dann einen digitalen Impfpass, über den sich alle bisherigen Impfungen über das angeschlossene bundesweite digitale Impfregister aufrufen lassen. Außerdem liefert die App aktuelle Informationen und generiert in unserem Szenario automatisch eine E-Mail: Achtung, die Grippesaison hat begonnen, melden Sie sich bei uns zu einem Termin an. Mit einem solchen Angebot würden sich sicher mehr Menschen vom Impfen überzeugen lassen, was weniger Ansteckungen bedeuten würde. Wir haben vor der Pandemie erlebt, dass es in einer Grippesaison bis zu 25.000 Grippetote geben kann. Das muss nicht sein!
Gibt es denn etwas, was Sie sich von den anderen Playern im Gesundheitswesen wünschen würden, also vom Gesetzgeber, von der Ärzteschaft, den Kassen?
Von Fugler: Eine engere Zusammenarbeit von Herstellern, Verbänden und der Regierung ist wichtig, um Fortschritte zu machen. Das funktioniert häufig gut bei den sogenannten Switches, das bedeutet, bislang verschreibungspflichtige Produkte auf rezeptfrei umzustellen. Eine Verbesserung in diesem Bereich sehe ich in einem Umdenken aller beteiligten Interessensvertreter. Wir sollten bei Switches immer getrieben sein von der Frage: Was ist das Beste für die Patienten und gesamtgesellschaftlich wünschenswert? Dies beinhaltet eine Abkehr von der reinen Diskussion um die Sicherheit der potentiellen neuen Arzneimittelkandidaten in der Selbstmedikation. Der Mehrwert für Patienten und das Gesundheitssystem eines Szenarios nach einem Switch sollte, ja muss in dem Entscheidungsprozess Berücksichtigung finden. Die Idee ist dann in Zukunft alle geeigneten Medikamente, die mit der richtigen Aufklärung von Arzt oder Apotheker frei verkäuflich sein können, gemeinsam zu identifizieren und sukzessiv in die Selbstmedikation zu überführen.
Irschik-Hadjieff: Ich wünsche mir erstens weniger Ängste und Sorgen im Hinblick auf Datenschutz, weil das der größte Verhinderer im Hinblick auf Digitalisierung ist. Ich wünsche mir zweitens, dass alle Systeme miteinander kommunizieren können. Wir haben heute in Krankenhäusern unterschiedliche Softwaresysteme, daher kann man Daten nicht miteinander verknüpfen, und das verhindert viel Wissen. Ich wünsche mir drittens, dass die elektronische Patientenakte mit dem elektronischen Impfpass zum Laufen kommt. Ich habe von meiner Krankenversicherung bis heute kein Angebot bekommen, dass diese Funktion verfügbar ist.
In der Arzneimittelherstellung gibt es einen Trend zu Biologika, zu biologisch erzeugten Wirkstoffen, die gezielter im Körper ansetzen als viele herkömmliche Medikamente. Ein Nachteil ist, dass die Biologika aus großen und empfindlichen Molekülen bestehen, die injiziert werden müssen. Dafür gibt es Applikationshilfen, sogenannte Autoinjektoren oder Pens, mit denen sich Patienten diese Arzneimittel selbst spritzen. Sind denn in Zukunft angenehmere Verfahren vorstellbar, oder ist da das Ende der Fahnenstange erreicht?
Irschik-Hadjieff: Ein Thema in der Pharmaforschung ist zurzeit die Idee des Needle-free Injectors, des nadelfreien Injektors. Dabei handelt es sich um eine Pumpe, die den Wirkstoff mit sehr starkem Druck in die Haut einbringt, das Schmerzempfinden soll um 80 Prozent geringer sein.
Ist denn die Handhabbarkeit der Applikationshilfen überhaupt relevant für den Selfcare-Gedanken?
Von Fugler: Ganz bestimmt, denn das erleichtert es Patientinnen und Patienten, sich das Medikament selbst zu verabreichen oder in einer Apotheke verabreichen zu lassen – auch von Personal, das nicht spritzen darf, kann oder möchte.
Sind bei den Impfstoffen einerseits oder in der Selbstmedikation andererseits in Zukunft ähnliche Megatrends und Paradigmenwechsel zu erwarten, die mit der Erfolgsstory der Biologika vergleichbar wären?
Irschik-Hadjieff: Wir arbeiten zurzeit an hexavalenten Impfstoffen, die sechs verschiedene Erreger abdecken, was sich in Zukunft einmal vielleicht sogar auf acht erweitern lässt. Gemeinsam mit AstraZeneca haben wir einen monoklonalen Antikörper gegen tiefe Atemwegsinfektionen durch RSV bei Säuglingen entwickelt. Monoklonal heißt, dass sie alle aus einer Zelllinie stammen – auch das ist eine neue Technologie, die sich für bestimmte Präventivprogramme eignet. Mein Appell an alle, auch die Skeptiker, lautet: Impfen ist ein Geschenk – holen Sie es sich einfach ab.
Von Fugler: Dem würde ich mich anschließen und hinzufügen, dass dies über das Impfen hinaus für Selfcare insgesamt gilt. Denn alles, was man vorbeugend oder bei ersten Beschwerden tut, kann dabei helfen, erst gar nicht zu erkranken oder schneller gesund zu werden und drastischere Mittel zu vermeiden – beispielsweise eine Antibiotikatherapie, weil man zuvor eine Infektion verschleppt hat. Selfcare, einschließlich Impfen, erhöht die Lebenserwartung, und ich denke, das ist in der Tat ein wertvolles Geschenk.