Future Health
Die Medizin der Zukunft
Digitalisierung im Gesundheitswesen
Wie Bits und Bytes die Biotechnologie voranbringen
Eine kürzlich veröffentlichte Studie der Universitäten München und Innsbruck hat ergeben, dass eine Smartphone-App ohne zusätzliche Ausstattung den Puls messen, analysieren und Vorhofflimmern erkennen kann – eine Herzrhythmusstörung, die das Schlaganfallrisiko erhöht. Es gibt Möglichkeiten, dieses Risiko medizinisch zu mindern – wenn man davon weiß. Aber die Betroffenen erfahren es häufig ebenso wie ihre Ärzte und Ärztinnen viel zu spät. In dem Test zur Studie mit mehr als 5500 Krankenversicherten in Bayern hat die App 100 Personen mit diesem Symptom herausgefiltert und zur Untersuchung geschickt.
Nur ein – in diesem Fall besonders eindrucksvolles – Beispiel unter vielen, das zeigt, wie die Digitalisierung die Gesundheitsvorsorge voranbringt. Erfolgsmeldungen zur Digitalisierung im Gesundheitswesen wie diese gehen regelmäßig durch die Medien. Auch in der Biotechnologie haben sich die Computer einen unverzichtbaren Platz erobert. Der Grund ist naheliegend: Der menschliche Körper ist komplex, die Biologika, also die mithilfe der Biotechnologie entwickelten Medikamente, sind es ebenfalls. Immerhin handelt es sich um Moleküle, die aus mehreren Tausend Atomen bestehen können. Eine minimale Veränderung im Aufbau des Wirkstoffs kann massive Auswirkungen haben – erwünschte oder unerwünschte.
Die Informationstechnik erlaubt es, diese Wechselwirkungen am Rechner durchzuspielen. Dabei kommen auf der Suche nach geeigneten Wirkstoffkandidaten schnell mal viele Tausend Simulationen zusammen. Vor nicht allzu langer Zeit, erinnert sich Sanofi-Forschungschef Jochen Maas, habe man sich wegen des hohen Aufwands darauf beschränken müssen, 30 bis 50 möglichst aussichtsreiche Kandidaten unter die Lupe zu nehmen, heute hingegen „ermöglichen es neue Roboteranlagen und Datenmaschinen am BioCampus in Frankfurt Höchst, bis zu 10 000 Kandidaten parallel zu testen“. Damit seien nicht nur die Erfolgschancen deutlich höher, einen geeigneten Wirkstoff zu finden. Es entstünden außerdem auch „große und informationsreiche Datensätze, die sich wiederum mithilfe Künstlicher Intelligenz auswerten lassen. Dadurch ist es möglich, aus der großen Datenflut zu lernen und Prinzipien für die Entwicklung noch besserer Wirkstoffe abzuleiten.“ Sind Erfolg versprechende Wirkstoffe gefunden, geht es an die Entwicklung: Die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler machen sich auf die Suche nach der bestgeeigneten Methode zur biotechnologischen Herstellung mithilfe lebender Zellen, Bakterien oder Hefen, nach der optimalen Formulierung – also Rezeptur – und Darreichungsform.
Damit hat digitale Technologie aber noch längst nicht ihre Aufgabe erfüllt. Sobald ein neuer Wirkstoff gefunden ist und die Hürden der Tests und Zulassungen genommen hat, geht es in die Produktion. Genügte dabei für Messwerte wie Temperaturen und Mengen früher eine einfache Tabelle, reicht das längst nicht mehr, denn während der Produktion einer einzigen Charge fallen Tausende von Messwerten an – pH-Werte, Zeitabschnitte und dergleichen –, die sich zu Milliarden von Datenpunkten summieren. Hier kommt Künstliche Intelligenz ins Spiel: Sie ist in der Lage, die Daten zu analysieren und wichtige Informationen daraus zu gewinnen, um vertiefte Einblicke in die Komplexität der Erforschung, Entwicklung und Produktion von Medikamenten zu ermöglichen.
Keine Chance, dies alles in einer akzeptablen Zeitspanne in echt durchzutesten. Die Lösung liegt in möglichst wirklichkeitsnahen Simulationen. Aber der Computer rechnet nicht nur fleißig – er kann auch Algorithmen in den Daten Muster erkennen. Und seine Datenschätze lassen sich immer weiter erweitern und verfeinern.
So steht für Christoph Grebner am Anfang aller Forschung der Computer. Der Chemiker setzt im BioCampus Moleküle zusammen, wobei ihm Künstliche Intelligenz assistiert. Nebenbei wirkt er am Aufbau einer Molekül-Bibliothek mit, in die stetig neue Erkenntnisse einfließen. Deren Notwendigkeit begründet er so: „Im Universum gibt es viel weniger Sterne, als es mögliche chemische Moleküle gibt. Das sind riesige Mengen. Wenn man nun mit einer KI prinzipiell jedes Molekül entwerfen kann, ist das einerseits gut, weil wir sehr diverse und neue Moleküle bekommen können. Zum anderen sind diese Moleküle aber eventuell sehr schwer herzustellen, die Synthese möglicherweise sehr komplex. Vielleicht geht sie gar nicht. Manchmal ist das ‚theoretische‘ Molekül auch einfach nicht stabil. Das heißt, wir brauchen neben diesem Explorieren des gesamten chemischen Raums noch eine Suche in einem Raum, der definierter und leichter zugänglich ist. Diesen Raum nennen wir virtuelle Molekül-Bibliothek.“
Während Grebner an den Wirkstoffen arbeitet, kommt sein Kollege Markus Rehberg von der anderen Seite: Er erforscht das Einsatzgebiet der Wirkstoffe, den menschlichen Körper. An der Schnittstelle von Mathematik, Informatik und Biologie sieht er seine Aufgabe darin, Modelle auf dem Gebiet der Immunologie zu entwickeln, „die zum Beispiel die Wirksamkeit von Medikamenten unter bestimmten Voraussetzungen vorhersagen können“. Ziel sei es, zu einer immer individueller auf den Patienten abgestimmten Therapie zu gelangen, etwa „genau zu wissen, welchen Einfluss einzelne Faktoren wie Geschlecht, Gewicht oder einzelne Blutwerte auf die Wirksamkeit von Medikamenten haben“. Genauso umgekehrt: welche Einflüsse zu stärkeren Nebenwirkungen führen. Für Rehberg liegen die Grenzen derzeit nicht in der digitalen Technologie, sondern: „Ich glaube, der limitierende Faktor zurzeit sind tatsächlich immer noch die Daten. Auch wenn wir so viele haben, wir hätten gerne mehr. Das liegt einfach daran, dass dann, wenn man die richtigen Daten hat, die Lösung quasi auf der Hand liegt.“
Podcast: Digitalisierung in der Gesundheitsbranche
Roboter, Algorithmen, künstliche Intelligenz: große Rechenleistung, verbesserte Aufbereitung anonymisierter Daten und der Einsatz von computergesteuerter Technologie in Forschung und Produktion bieten heute enorme Möglichkeiten. Im Podcast „Gesundheit & Innovation“ erhalten Sie in 3 Folgen tiefen Einblick. Neugierig? Jetzt reinhören!
Besonders klar erkennbar ist der Nutzen des Zusammenspiels von digitaler und Biotechnologie bei der Behandlung der sogenannten seltenen Erkrankungen, von denen es über 6000 verschiedene gibt. Auf diesem Gebiet ist es auch für Ärzte kaum möglich, die Übersicht zu behalten. Vier Millionen Menschen in Deutschland sind davon betroffen, das ist immerhin jeder zwanzigste. Carina Kujawski arbeitet im BioCampus an einem Projekt zu seltenen Muskelerkrankungen, die es allein bereits auf 800 Varianten bringen.
Das von Sanofi unterstützte Projekt mit dem Namen ARTIS – Artificial Intelligence Solution – funktioniert so: Wenn jemand Schmerzen hat und seine oder ihre Symptome googelt, die auf eine solche Muskelerkrankung hindeuten könnten, erscheint in den Suchergebnissen ein Fragebogen, den der Nutzer oder die Nutzerin ausfüllen kann. Aufgrund der Eingaben errechnet Künstliche Intelligenz Wahrscheinlichkeiten, um welche Erkrankung es sich handeln könnte. Der oder die Ratsuchende erhält auf dem Bildschirm einen Code, mit dem er oder sie einen Facharzt oder eine Fachärztin aufsuchen kann. „Und der Neurologe“, beschreibt Carina Kujawski das weitere Vorgehen, „kann sich mithilfe dieses Codes in das System von ARTIS einloggen und die Wahrscheinlichkeiten sehen, die es berechnet hat. Dann sieht er, dass das Antwort-Muster des Betroffenen so aussieht wie ein typisches Antwort-Muster beispielsweise eines Patienten, der an der Muskelerkrankung Morbus Pompe leidet, und der Arzt kann dann das weitere diagnostische Vorgehen vornehmen. Das heißt, ARTIS hilft ihm im entscheidenden Moment, an diese Muskelerkrankung zu denken, und führt schon mal auf die richtige Spur.“
Aber das Potential digitaler Technologien ist mit den heutigen Anwendungen noch lange nicht erschöpft. Computerchemiker Christoph Grebner schätzt, dass Quantencomputer, sollten sie einmal einsatzbereit sein, den nächsten großen Sprung in der Erforschung und Entwicklung von Biologika ermöglichen würden, denn „Quantencomputer könnten Realität auf atomarer Ebene viel wirklichkeitsgetreuer abbilden, als das bisher möglich ist“.