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„Es ist reizvoll, Privilegien zu haben“

„Es ist reizvoll, Privilegien zu haben“

2017 gründete Emilia Roig das „Center for Intersectional Justice“, um  strukturelle Ungleichheit in Europa effektiver anzugehen. Foto Mohamed Badarne

Die Politologin Emilia Roig sagt, unsere heutige Welt sei für weiße Menschen entworfen. Wie sie ihre Einstellung begründet und wieso das Patriarchat in Deutschland die Norm darstellt, erklärt sie im Interview.

Frau Roig, was bedeutet für Sie Normalität?
Die Normalität ist ein bestimmtes Bild, mit dem wir aufgewachsen sind und das wir in der Regel nicht infrage stellen, weil es als natürlich dargestellt wird. Was natürlich ist, geschieht aus sich heraus, was natürlich ist, das kann man nicht kontrollieren. Doch die Norm ist eigentlich ein Konstrukt und führt zu Unterdrückung. Denn die Norm bestimmt, dass es Menschen gibt, die „normal“ sind, und andere, die davon abweichen.

Wie hat sich die bestehende Norm entwickelt?
Die bestehende Norm leitet sich aus der Weltsicht von weißen Männern ab. Denn die Norm und die zugrunde liegende Hierarchie hat sich über die vergangenen Jahrhunderte entwickelt und wird bis heute fortgeführt. An der Spitze standen und stehen bis heute weiße Männer, welche die Norm darstellen. Durch den Kolonialismus und den damit einhergehenden Imperialismus wurde diese Norm auch in anderen Kulturen und Völkern durchgesetzt. Menschen, die dieser Norm nicht entsprachen, wurden durch wissenschaftliche Theorien als unterlegen konstruiert, wie zum Beispiel durch die Rassenlehre oder Theorien über das binäre Geschlecht.

Die Rassenlehre ist zwar faktisch falsch, bis heute gibt es aber keine breit angelegte Aufklärungskampagne. Selbst in Deutschland
glauben heute noch viele Menschen, dass rassische Unterschiede zwischen den Menschen existieren, die eine biologische Ursache haben. Es gibt einige Menschen, die beispielsweise glauben, dass bestimmte Menschen aufgrund ihrer Hautfarbe weniger intelligent sind als andere. Der Fakt, dass menschliche Rassen nicht existieren und wissenschaftlich als falsch bewiesen wurden, ist in der Gesellschaft immer noch nicht wirklich angekommen.

Aber sind nicht auch heterosexuelle, weiße Männer selbst in dieser Norm gefangen?
Natürlich, aber im Gegensatz zu den anderen Gruppen können sie Macht durch diese Strukturen schöpfen. Es kann auch unbequem für einzelne Männer sein, wenn sie zum Beispiel lieber die Care-Arbeit erledigen möchten, anstatt Karriere zu machen. Doch auch diese Männer haben Privilegien, die ihnen das Leben innerhalb der Gesellschaft vereinfachen und die andere Gruppen nicht besitzen. An ihnen orientiert sich zum Beispiel ein großer Teil der Forschung – bis heute. Medizinische Studien orientieren sich an dem männlichen Körper, mit teilweise fatalen Folgen für Frauen. Künstliche Intelligenz reproduziert ebenfalls die weiße Vorherrschaft und die männliche Dominanz. Denn viele der Algorithmen werden von weißen Männern entwickelt und getestet. Ihre unbewussten Vorurteile fließen in die Algorithmen ein. Außerdem speist sich KI aus Daten und Informationen, die von einer Gesellschaft erhoben wurden, die tief in rassistischen Mustern verankert ist. So übernimmt sie natürlich auch rassistische Vorurteile.

In ihrem Buch „Why We Matter“ schreiben Sie, die Welt sei für weiße Menschen entworfen. Wie meinen Sie das?
Wenn wir in einen Supermarkt gehen, egal wo auf dieser Welt, dann finde ich dort Haarprodukte für weiße Menschen, es gibt dort Pflaster in heller Hautfarbe und Make-up für helle Haut. In fast allen Filmen, die wir schauen, finden wir überwiegend weiße Schauspieler und Schauspielerinnen – auch wenn weltweit weiße Menschen eine kleine Minderheit bilden. Der Alltag ist auf weiße Menschen ausgerichtet. Sie müssen sich ihrer Hautfarbe nicht bewusst werden, weil alles um sie herum der weißen Norm entspricht.

Wie ließe sich das ändern?
Ich glaube, Veränderung muss auf mehreren Ebenen stattfinden. Die Aufklärung spielt dabei eine wichtige Rolle. Es gibt bereits viel Aufklärungsarbeit, die innerhalb der Gesellschaft geleistet wird. Aber es muss noch deutlich mehr werden. Denn wir können unsere gewohnten Muster nur dann durchbrechen, wenn wir erkennen, an welchen Stellen wir Ungleichheit durch unser eigenes Handeln bewusst oder unbewusst fördern. Das ist ein langwieriger Prozess, der aber bereits erste Erfolge zeigt.

Dabei ist es vor allem wichtig, dass sich die Strukturen innerhalb von Familien und Beziehungen ändern. Die Tatsache, dass Männer ihre Machtposition beibehalten können, hat unter anderem damit zu tun, dass Frauen sie zu Hause unterstützen, indem sie die Care-Arbeit übernehmen, während die Männer Karriere machen und Vermögen ansammeln.

Stellen populistische Strömungen eine Hürde für die Weiterentwicklung zu einer toleranteren Gesellschaft dar?
Selbstverständlich. Gleichzeitig ist das Aufkommen solcher Strömungen ein Zeichen dafür, dass wir vorankommen, sonst würde es keinen Widerstand geben. Würde das bestehende System nicht bröckeln, dann wären populistische Strömungen auch nicht so erfolgreich. Sie kommen auf, um bestehende Systeme zu schützen. Und wenn die Systeme geschützt werden müssen, dann heißt das auch, dass sie wirkungsvoll angegriffen werden.

Sie arbeiten intersektional. Das heißt, Sie gehen verschiedene Formen der Ungleichheit gleichzeitig an, zum Beispiel Rassismus, Sexismus und Homophobie. Warum ist das bei diesem Thema so wichtig?
Alle Unterdrückungssysteme stützen sich gegenseitig. Das zeigt sich beispielsweise ganz deutlich beim Gender-Pay-Gap. Wenn wir darüber sprechen, patriarchale Strukturen zu durchbrechen, dann geht es vorrangig darum, die Gehaltslücke zwischen Männern und Frauen zu schließen.

Dafür müssen Frauen auf dem Arbeitsmarkt das Gleiche leisten können wie Männer. Um das zu gewährleisten, werden andere Frauen mobilisiert, welche die Care-Arbeit der arbeitenden Frauen übernehmen, zum Beispiel als Babysitterin oder Putzfrau. Hier kommt der Faktor Rassismus ins Spiel, denn diese Frauen sind oft Migrantinnen und werden vergleichsweise schlecht bezahlt. Dafür, dass einige Frauen in privilegierteren Positionen arbeiten können, geben sie die Hausarbeit an weniger privilegierte Frauen ab. Deshalb ist es wichtig, Ungleichheit ganzheitlich zu betrachten und zu überlegen, wie man Lösungen finden kann, ohne dadurch auf einem anderen Gebiet neue Probleme zu schaffen.

Glauben Sie, dass die Mehrheit der Gesellschaft bereit ist, ihre Privilegien zugunsten eines gerechteren Zusammenlebens aufzugeben?
Nein, die Mehrheit sicherlich nicht. Es gibt Menschen, die dazu bereit sind, aber das ist eine kleine Minderheit. Ich möchte diese Menschen nicht verurteilen, denn es ist natürlich reizvoll, Privilegien zu haben, und man gibt sie nicht so einfach auf. Aus diesem Grund sollten wir nicht darauf warten, dass eine Mehrheit ihre Privilegien für eine Minderheit aufgibt.

Viele Frauen glauben zum Beispiel, dass der Feminismus mehr Männer braucht. Das stimmt aber nicht. Es sind keine Männer gewesen, die für uns das Wahlrecht gefordert haben oder das Recht auf Abtreibung. Frauen haben dafür gekämpft. Natürlich waren es dann Männer, die das Wahlrecht durchgesetzt haben, aber nur auf Druck der Frauen, nicht weil sie selbst darauf gekommen wären, dass das eine gute Idee wäre. Es ist wichtig, dass wir mächtigen Gruppen nicht noch mehr Macht geben, indem wir sie für unsere Befreiung verantwortlich machen. Sozialer Fortschritt wurde bisher immer durch die unermüdliche Arbeit derjenigen Menschen erreicht, die von den Ungleichheiten negativ betroffen waren.

Das Interview führte Kim Berg.

 

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